Interview mit Sabine Rieckhoff

Das Interview fand anlässlich des Heiligenfeld Kongresses in Bad Kissingen statt. 
Titel des Kongresses „Offenheit – Chance zwischen den Zeiten“ 
06.-09.06.2024 


Was bedeutet für Sie persönlich Offenheit?

Offenheit heißt für mich, alles wahrzunehmen, was mir im Leben begegnet. Dies kann ein Ereignis im Außen sein, aber auch ein Gefühl oder ein Impuls im Inneren. Offenheit empfinde ich wie einen zusätzlichen Sinn, mit dem ich feinste Schwingungen und Energien spüren kann. Wichtig hierbei ist, dass der Verstand in dieser Zeit ruht bzw. mit etwas anderem beschäftigt ist. Denn tut er dies nicht, dann würde er sofort versuchen, die Wahrnehmung einzuordnen oder zu bewerten. Und dann bin ich nicht mehr offen. 
Es geht somit darum, offen zu sein für meine Offenheit, denn genau dann nehme ich wirklich wahr. Das ist auch der Zauber in der Meditation, denn hier übe ich, den Verstand zur Ruhe zu bringen und Offenheit zuzulassen.

Offenheit im Alltag ist für mich ein Instrument der Bewusstwerdung. Wenn ich beispielsweise einem unvorhergesehenen Ereignis offen begegne, kann es passieren, dass mein Modell der Welt ins Wanken gerät. Dies kann eine vorübergehende Verwirrung erzeugen, der ich mich aussetze. Ich warte sozusagen das Ergebnis dieser Neu-Sortierung in mir ab. Auf diese Weise erweitert sich meine Perspektive, und ich gewinne schrittweise mehr Bewusstsein über mich selbst sowie über die Welt um mich herum. Letztendlich ist Offenheit für mich das Leben im „Anfängergeist“: Immer zum Staunen bereit.
 

Auf Ihrer Internetseite habe ich gelesen: „Der Weg des Werdens ist ein Weg des Bewusstseins. Er führt zum Erwachen der Seele und der Frage: Wer bin ich wirklich“. In Ihrem Vortrag gehen Sie auf den Weg des Werdens ein. Wie können sich Menschen für ihr eigenes Werden öffnen?

Menschen, die sich ihrem eigenen Werden öffnen möchten, erfüllen bereits zwei wichtige Voraussetzungen: Sie interessieren sich für sich und sie wenden den Blick nach innen. Die Bereitschaft, sich auf sich selbst einzulassen, ist da.

Wunderbare „Türöffner“ sind Fragen, die wir uns selbst stellen, die auf ein „Dahinter“ zielen wie beispielsweise „Warum oder wozu mache ich dies eigentlich?“, „Was ist der Sinn davon?“, „Warum erlebe ich dies?“ oder „Wer bin ich wirklich?“. Solche Fragen sind kostbar und begrüßenswert! Sie führen uns direkt hinein in unser Inneres. Ich empfehle jedem, wenn solche Fragen auftauchen, diesen nicht auszuweichen. Im Gegenteil: Nehmen Sie sich Zeit, setzen Sie sich irgendwo hin, wo niemand Sie stört, und lassen Sie die Frage in sich wirken! Erlauben Sie auch unangenehme Gefühle und Widerstände, die erscheinen. Das ist ganz normal, denn Sie gehen diesen Weg ja das erste Mal. Sie machen das Unbekannte in Ihnen bekannt.

Tauchen diese Fragen nicht auf, gibt es jedoch ein Gefühl, dass etwas ungeklärt ist, dann gilt auch hier: Nehmen Sie sich Zeit, suchen Sie sich einen ruhigen Ort und spüren Sie Ihrem Gefühl nach. Jede in uns auftauchende Frage, jedes diffuse Gefühl ist eine Gelegenheit, sich für sich selbst – für das eigene Werden – zu öffnen.
 

Wenn sich Menschen für das eigene Werden, dem „Wer sie wirklich sind“ öffnen, kann es zum Erwachen führen. Wie kann der Mensch das Erwachen erkennen? Und wie kann der Verstand bei der Transformation helfen?

Meiner Erfahrung nach handelt es sich beim Erwachen um einen schritt- bzw. stufenweisen Prozess. Das heißt, er verläuft langsam und in Sprüngen. Anzeichen des Erwachens können sein: Das diffuse Gefühl, dass es im Leben noch mehr gibt, aber ich weiß nicht was. Ich stelle mir Fragen, die ich mir noch nie zuvor gestellt habe. Dinge, die mir vorher wichtig waren, sind mir nicht mehr wichtig. Ziele, die ich mir in meinem Leben gesetzt habe, fallen plötzlich weg. Ich kann mich für nichts mehr begeistern. Ich fühle eine tiefe, scheinbar grundlose Traurigkeit. Ich weine, ohne zu wissen warum. Ich habe ein Gefühl der Einsamkeit, besonders inmitten anderer Menschen. Ich suche den Rückzug, benötige mehr Zeit für mich, möchte verstehen, was vor sich geht.

Der Verstand sucht in dieser Zeit „ver-zweifelt“ nach Lösungen, ohne sie zu finden. Mit seinen Zweifeln erschwert er das Erwachen jedoch nur. Am sinnvollsten kann er diesen Prozess unterstützen, indem er zur Seite tritt, zuhören lernt und vertraut. Meditation ist eine geeignete Übung, den Verstand zu beruhigen und ihn auf seine zukünftige Funktion vorzubereiten. Denn der Verstand übernimmt eine zunächst sehr schwierige, dann aber eine äußerst wichtige Rolle: Er muss den „Chef-Sessel“ verlassen und lernen, mit der erwachten Seele zusammenzuarbeiten, indem er Wege findet, die Bedürfnisse der Seele umzusetzen. In meinem Vortrag am Sonntagmorgen werde ich auf diesen Prozess näher eingehen.
 

Sie nennen im Zusammenhang mit dem Erwachen die Seele. Was bedeutet für Sie Seele und was ist ein beseeltes Leben für Sie?

Die Seele nehme ich als eine Instanz in mir wahr, die mir unerwartete Fragen und Impulse sendet. Diese haben zur Folge, dass ich Dinge in Frage stelle, die meine Sicht auf die Welt verändern. Zu Beginn war die Stimme der Seele sehr leise und wurde gern von mir überhört. Im Laufe der Zeit lernte ich jedoch, dass es vorteilhafter ist, auf sie zu achten, und schulte mich darin, ihr zu lauschen. Heute folge ich gern meiner Seele, denn hier finde ich Sinn und Antworten, die ich vorher im Außen gesucht habe.

Um diesen Weg mit Freude gehen zu können, benötige ich die Hilfe meines Verstandes. Er hilft mir, das umzusetzen, was mir meine Seele signalisiert. Dies erfordert jedoch eine gute Zusammenarbeit zwischen Seele und Verstand, die täglich neu zu üben ist. Gelingt mir das, empfinde ich mein Leben als beseelt. Ich nenne dies auch gern „den Himmel auf die Erde bringen“.
 

Am Samstag halten Sie einen Workshop zum Thema „Die Kunst des Werdens“. Sie möchten einen Erfahrungsraum schaffen, in dem sich jedes Wesen zeigen darf. Möchten Sie ihren Workshop beschreiben?

In diesem Workshop stellen wir einen Erfahrungsraum her, der eine vertrauensvolle Atmosphäre schafft. Das Ziel ist, in sich selbst in diesem Moment anwesend zu sein und Antworten zu finden, die aus dem Inneren emporsteigen.

Es handelt sich hierbei um einen schlichten und stillen Prozess. Wir nehmen den Jetzt-Moment in bewusster Absicht an, wodurch sich die Atmosphäre des Raumes verändert. Wir entspannen, wir fühlen, wir hören uns selbst zu, wir erlauben und wir reflektieren. Im Anschluss tauschen wir uns darüber aus, um die Erfahrung zu festigen. Und da die Seele es gerne leicht und freudig mag, ist der Humor auch mit eingeladen. So lernen wir, uns daran zu erinnern, dass wir jederzeit auf uns selbst hören können, statt im Außen zu suchen.

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